„Das Mehr an Honorar muss bei den Physiotherapeuten ankommen“

MdB Emmi Zeulner und Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz fordern angemessene Entlohnung – Auch Fachkräftemangel und Blankoverordnung Themen beim Expertengespräch

BAD STAFFELSTEIN (02.08.2017)   „Mit dem neuen Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG) hat der Deutsche Bundestag den Physiotherapeuten die Chance gegeben, mehr Verantwortung zu übernehmen, indem die Ärzte in Zukunft Blankoverordnungen ausstellen können. Derzeit werden die Rahmenbedingungen erarbeitet und die Frage geklärt, welche Physiotherapeuten qualifiziert genug sind, die Blankoverordnungen bedienen zu können“, stellte Annette Widmann-Mauz, Parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium, beim Expertengespräch am Freitag klar, zu dem Bundestagsabgeordnete Emmi Zeulner ihre Kollegin, Physiotherapeuten und Ärzte ins TheraMed Gesundheitszentrum nach eingeladen hatte.
Die Möglichkeiten und Herausforderungen der Physiotherapie und einer modernen Patientenversorgung standen dabei im Fokus, insbesondere die Fragen einer angemessenen Vergütung, der Fachkräftemangel und Akademisierung des Berufsfeldes. „Das neue Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelverordnung ist am 11. April 2017 in Kraft getreten. Es hat entscheidende Verbesserungen gebracht“, erinnerte MdB Emmi Zeulner. „So beispielsweise auch durch Qualitätsvorgaben der Hilfsmittelversorgung, die Wahlmöglichkeit des Versicherten zwischen mehreren Hilfsmitteln und die Etablierung von Wundzentren. Für die Heilmittelerbringer gibt es mehr Honorar: Durch die Aufhebung der Grundlohnsummenanbindung bei der Vergütung kann die Veränderungsrate in den Jahren 2017-2019 um mehr als 2,95 Prozent ansteigen. Es zeichnet sich ab, dass es eine Steigerung von acht bis zehn Prozent gibt. Das kommt insbesondere den kleinen Praxen zugute“, erläuterte sie.
„Auch die Blankoverordnung, die im HHVG festgelegt wurde, ist ein spannendes Themenfeld. Dabei erfolgt die Verordnung durch den Arzt, der Heilmittelerbringer bestimmt die Therapieauswahl und die Therapiedauer“, so die Bundestagsabgeordnete weiter. „Der Fachkräftemangel stellt uns gerade hier in der Region vor große Herausforderungen, weswegen wir alles unternehmen müssen, dagegen anzugehen. Als Gesundheitspolitikerin ist es mir ein besonderes Anliegen, aus erster Hand zu hören, welche Erfahrungen die Fachkräfte vor Ort zu den Änderungen im neuen HHVG gemacht haben und wo ihnen weiterhin der Schuh drückt“, betonte MdB Zeulner.
Der Leiter des Gesundheitszentrums, Michael Klob, der das Gespräch im Vorfeld mitkoordiniert und die Moderation inne hatte, hob hervor, wie wichtig die Unterstützung seitens der Politik für die Physiotherapeuten ist: „Dass wir in unserer Region so viele Arbeitsplätze in der Gesundheitsbranche haben, haben wir auch unserer tollen Kommunalpolitik zu verdanken.“ Ein besonderes Lob zollte er MdB Emmi Zeulner: „Sie ist eine äußerst engagierte Lokalpolitikerin mit direktem Draht nach Berlin und großer Kompetenz.“
Als „eine beharrliche Kämpferin ihrer Überzeugungen“ würdigte Parlamentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz die Bundestagsabgeordnete. „Die Gesundheitswirtschaft brummt, das zeigt sich allein beim Besuch hier im Gesundheitszentrum“, stellte sie weiter fest. Doch sei der Fachkräftemangel in der Branche eine große Herausforderung: „Wir müssen da was tun!“ Ein Versuch, dem entgegenzuwirken, seien die Neuregelungen zu den Vergütungsverhandlungen im HHVG. „Es ist wichtig, dass dieses Mehr auch bei den Physiotherapeuten ankommt und sich deren Einkommenssituation verbessert.“ Was dies und die Aufhebung der Grundlohnsummenanbindung anbelange, forderte Staatssekretärin Widmann-Mauz das Auditorium auf, Klartext zu sprechen: „Ich will wissen, wo wir stehen, fühlen Sie sich frei, mir regionale Unterschiede aufzuzeigen.“
Zahlen und Fakten zu Beschäftigten in medizinischen Gesundheitsberufen und zur Akademisierung des Berufsfeldes lieferte Dr. Christoph Egner von der Fachhochschule des Mittelstands. Demnach übten zum 31. Dezember 2015 2,8 Millionen Beschäftigte einen medizinischen Beruf aus. Insgesamt waren zu dem Zeitpunkt in Deutschland 5,3 Millionen Menschen im Gesundheitswesen tätig. Seit 2012 sei ein stetiger Zuwachs der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten Physiotherapeuten zu verzeichnen. Eine aktuelle Studie belegt laut Dr. Egner, dass die Zahl der akademischen Abschlüsse in der Physiotherapie allein seit 2013 um 26 Prozent gestiegen sind, die Gesamtquote lag bei 2,75 Prozent. Der Referent verwies weiterhin darauf, dass die AG Gesundheit in einem Positionspapier fordert, die Zusammenarbeit aller qualifizierten Gesundheitsberufe sei eine unumgängliche Voraussetzung, um die Versorgungsstrukturen besser zu vernetzen und die Qualität der Versorgung sektorenübergreifend zu verbessern. Im Koalitionsvertrag heißt es:  „Der Einsatz von qualifizierten nichtärztlichen Gesundheitsberufen, die delegierte Ärztliche Leistungen erbringen, soll flächendeckend ermöglicht und leistungsgerecht vergütet werden.“
Doch liefere eine Umfrage in Physiotherapiepraxen bezüglich der Akademisierung ein eher ernüchterndes Ergebnis: Zwar bejahten 51,8 Prozent, dass sie einen Physiotherapeuten mit akademischen Abschluss beschäftigen können. Doch würden ihn gerade einmal 4,1 Prozent für besondere Aufgaben einsetzen. Dr. Egner, der sich selbst als „großen Verfechter des akademischen Weges“ bezeichnete, warf schließlich die Frage auf: „Wie kann ich einem Studenten einen Beruf ‚schmackhaft‘ machen, wenn er am Ende nur 2000 bis 2200 Euro brutto verdient?“ Was die Ausbildung anbelangte, verlangte er: Es müsse an den Fachhochschulen klar ein Curriculum entworfen werden, der individuell auf das Berufsfeld zugeschnitten werden kann.
Michael Klob setzte dem entgegen, man brauche auch in Zukunft Physiotherapeuten, die im grundständigen und kurativen Bereich tätig sind. Zum Kompetenzerwerb in Gesundheitsfachberufen sprachen anschließend von der Medau-Schule Bernd Frittrang (Schulleitung Logopädie) und Nicole Schuhmann (Schulleitung Physiotherapie). Durch demographische und epidemiologische Veränderungen sowie den medizinischen Fortschritt habe sich das Gesundheitswesen verändert, stellte Bernd Frittrang fest. Die Zunahme von chronischen Erkrankungen und Multimorbididät bei älteren Menschen (komplexere Versorgungsbedarf und komplexere Aufgaben) bedingten eine sektorenübergreifende und interdisziplinäre Versorgung sowie eine interprofessionelle Zusammenarbeit.
Der medizinische Fortschritt erschließt neue Möglichkeiten in Diagnostik, Therapie, Prävention, Rehabilitation und Pflege. Den Angehörigen der Pflege- und Therapieberufe werde abverlangt, ihr  Handeln auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnis zu reflektieren, die Versorgungsmöglichkeiten evidenzbasiert zu prüfen und wirtschaftlich zu planen sowie das eigene Handeln im Blick auf die Wünsche der Patienten anzupassen – gefragt sein ein reflektierender Praktiker, stellte Bernd Frittrang fest.
Dr. Christian Hartnik beleuchtete das Thema Verordnungspraxis und Blankoverordnung aus ärztlicher Sicht. „Wenn wir mit einer Blankoverordnung arbeiten, müssen wir uns auch mit der Wirtschaftlichkeitsprüfung auseinandersetzen“, stieg Michael Klob in die Diskussion ein und erkundigte sich, inwieweit die Politik sich diesbezüglich „Gedanken gemacht“ hat. Natürlich sei eine Blankoverordnung nicht das Paradies, räumte Staatssekretärin Widmann-Mauz ein. „Wir müssen schon die Finanzen im Blick behalten. Es muss Heilmittelrichtlinien geben, die dann auch greifen.“ Gleichzeitig wurden von einem Zuhörer Qualitätsstandards für Physiotherapiepraxen gefordert.
Ein weiterer Diskussionsteilnehmer beklagte, dass Sachbearbeiter von Krankenkassen in Arztpraxen „hausieren“ gingen und anmahnten, Therapieverordnungen nochmals zu überarbeiten. „Das muss seitens des Gesetzgebers deutlich eingeschränkt werden“, forderte er. „Es darf keine Gängelung durch die Krankenkassen geben“, betonte MdB Emmi Zeulner und sicherte ihm diesbezüglich volle Unterstützung zu, ebenso wie die Parlamentarische Staatssekretärin: „Allein die Diskussion zeige, wie komplex es ist, Blankverordnungen festzulegen.“
In Bezug auf die Akademisierung unterstrich Staatssekretärin Mauz: „Wir müssen im Gesundheitswesen aufpassen, dass wir bald nicht nur noch Theoretiker haben. Wir brauchen sicherlich auch Leute mit akademischen Abschluss, um die Weiterentwicklung der Berufe zu gewährleisten. Aber wir brauchen auch Leute, die das Therapeutische übernehmen.“
Die Gesundheitspolitikerin forderte ferner: „Wir müssen Qualifikationen ganz klar definieren. Wo macht es Sinn Akademiker einzusetzen?“ Auch das Thema Tarifverträge werde noch eine große Rolle spielen, ebenso wie die Frage, wie man ein Berufsfeld so weiterentwickeln könne, dass mehr Vollzeitanstellungen möglich sind: „Wir brauchen entsprechende Vergütungsverhandlungen, dann wächst auch der Mut zur Ausbildung und zur Einstellung.“
MdB Emmi Zeulner hob hervor, dass der Fachkräftemangel unbedingt angegangen werden müsse und sicherte auch hier Unterstützung zu: „Es kann nicht sein, dass jemand für eine Ausbildung noch Geld mitbringen muss.“ Große Anerkennung sprach Bernd Frittrang den beiden Gesundheitspolitikerinnen aus: Das HHVG sei eine Riesenchance für die Physiotherapeuten. Ein besonderes Dankeschön sagte er MdB Emmi Zeulner und Staatssekretärin Widmann-Mauz, dass sie den Physiotherapeuten im Rahmen des Expertengesprächs erstmals die Möglichkeit angeboten haben, sich mit einzubringen. Auch MdB Zeulner sprach allen Referenten und Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein großes Dankeschön für die konstruktive Diskussion und die wertvollen Impulse aus. Sie versicherte: „Wir werden die vielen Anregungen mit in unsere politische Arbeit aufnehmen.“

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